
Nachdem in Zeiten der Corona-Krise das Pflegefachpersonal zu Helden des Alltags stilisiert und seine Systemrelevanz betont wurde, ist es wieder stiller um das Berufsfeld geworden. Die Leistungen wurden mit einer Bonuszahlung honoriert, die je nach Bundesland unterschiedlich ausfiel. In der Krisensituation bekannten sich die politisch Verantwortlichen zur Notwendigkeit einer grundlegenden Reform des Gesundheitssystems und einer Aufwertung der Tätigkeiten in der Pflege. Mit der Rückkehr zu einer veränderten Normalität, rückten auch wieder die Alltagsprobleme in der Pflege in den Vordergrund.
Problemstellungen
In den modernen Gesellschaften steigt die Lebenserwartung der Menschen, die in der Zwischenzeit 75,5 Jahre bei Männern und 83,3 Jahre bei Frauen beträgt. Gleichzeitig steigt der Anteil von älteren Menschen kontinuierlich. Das Durchschnittsalter in Deutschland liegt derzeit bei 43 Jahren und wird laut Prognosen bis zum Jahr 2030 auf 47 Jahre ansteigen. Die Konsequenz aus diesen Entwicklungen wird ein deutliches Ansteigen der Pflegebedürftigen in der Zukunft sein.
Daraus ergibt sich ein ebenfalls steigender Bedarf nach Pflegefachpersonal, dessen Aufgabenstellungen zunehmend komplexer werden. Im Gegensatz zum Bedarf steht das Angebot an qualifizierten Pflegerinnen und Pflegern. Die Arbeitsbedingungen und die fehlende gesellschaftliche Anerkennung führen zu einem eklatanten Mangel an Arbeitskräften. Dem soll nunmehr eine Reform des Pflegewesens entgegenwirken. Das Ziel ist die Steigerung der Attraktivität der Pflegeberufe, die einerseits die Abwanderung bereits ausgebildeter Fachkräfte verhindern und andererseits zu einer Erhöhung der Bewerberzahlen führen soll.
Aktuelle Situation
Entgegen den medialen Bekenntnissen zu einer grundlegenden Pflegereform, sehen Vertreter der Pflegewissenschaften und Unternehmen im Gesundheitssektor aktuell wenig Aussicht auf Besserung. Stephan Holzinger, Chef der Rhön-Klinik AG, bewertet erste Ansätze einer Reform des Pflegesektors durch die Einführung des DRG (Diagnosebezogene Fallgruppe) als Abrechnungssystem für stationäre Gesundheitseinrichtungen im Gegenteil sogar als kontraproduktiv. Die Fallpauschalen führen in der Praxis zu einem Fehleinsatz von Fachpersonal, warnt der Manager.
Das Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaften an der Charité in Berlin veröffentlichte vor kurzem eine Untersuchung zur Situation der Pflege im internationalen Vergleich. Dabei gehen die Berliner Wissenschaftler von einer parallelen Herausforderung der Gesundheitssysteme in Europa und den USA aus. Alle untersuchten Gesellschaften sehen sich mit der identischen Problemlage konfrontiert: Expandierendes Pflegewesen bei gleichzeitigen wachsenden Personalengpässen. Das wichtigste Ergebnis der Studie ist eine fehlende politische Rahmensetzungen hin zu einer Erhöhung der Kapazitäten und der Qualität in Deutschland. Im Gegensatz hierzu sehen die Gesundheitsexperten vor allem in den europäischen Nachbarländern kreative und innovative Ansätze zu einer Überwindung der Pflegekrise. Aus der Analyse der Pflege im Ausland, in Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden und den skandinavischen Ländern, kommen die Berliner Forscher zu einem Maßnahmenkatalog für das deutsche Gesundheitswesen.
Maßnahmen zur Erhöhung von Kapazität und Qualität
Im Gegensatz zu den europäischen Nachbarn ist die Akademisierungsquote in den Pflegeberufen in Deutschland nur marginal. Lediglich zwei Prozent des Fachpersonals verfügen über einen akademischen Abschluss. Die europäischen Vergleichswerte liegen zwischen 45 Prozent (Niederlande) und 100 Prozent (Großbritannien, Schweden). Daher fordern die Wissenschaftler den Aufbau von Bachelor und Masterangeboten im Bereich der Pflegewissenschaften.
Im deutschen Gesundheitssystem dominiert die Stellung des Arztes, wohingegen der Verantwortungsbereich der Pflegefachkräfte begrenzt ist. Zur Steigerung der Attraktivität und Motivation des qualifizierten Personals, plädiert die Studie für eine Übernahme von ärztlichen Aufgaben durch das Pflegepersonal, wodurch eine Steigerung der Selbstverantwortung erreicht wird.
Die Mitbestimmung des Fachpersonals bei Fragen der Organisation und Struktur der Pflege soll durch die Stärkung von professionellen Interessenvertretungen unterstützt werden.
Die Zukunft des Gesundheitssystems sehen die Forscher in einer forcierten Digitalisierung und Anwendung von technologischen Entwicklungen im Bereich der Robotik. Als Beispiele nennt die Studie die Vernetzung der Patientendaten durch eine elektronische Krankenkarte und die flächendeckende Möglichkeit von virtuellen Arztbesuchen. In der konkreten Pflege sollen Exoskelette oder Pflegeroboter das Fachpersonal von Routinetätigkeiten entlasten.